Für Lesefaule: Es gibt keine Zusammenfassung, dies ist die wahrscheinlich größte Liebeserklärung, die ich meinem Heimatland und meinem Heimatkontinent jemals gemacht habe…
Meine neueste Leidenschaft ist die See. Ich mag meinen Maritime History-Kurs, ich schreibe meine Hausarbeit über einen potenziellen Kanal in Nicaragua (sehr interessant: Ein chinesischer Mogul hat mit Präsident Ortega einen Vertrag über 40Mrd. Dollar abgeschlossen, das ist vier Mal das gesamte Staatseinkommen von Nicaragua. China erhält exklusive Rechte und kann bei Misserfolg nicht strafrechtlich verfolgt werden. Misserfolg? Ja, es gibt da so eine Theorie, dass bei falscher Bohrung weite teile Costa Ricas überschwemmt werden könnten…) und am Montag war ich in Boston am Hafen. Hier ein paar Eindrücke:
Meine neu entdeckte Leidenschaft für Schiffe mag auch damit etwas zu tun haben, dass man mit Schiffen vor allem eins gut machen kann: verreisen, die Ferne erkunden. Bisher hat mich immer eins getrieben: Fernsucht und, was ich mit der Fremde immer verband, Freiheit. Müde von meinem Studiensemester spüre ich jetzt etwas, was mir völlig fremd ist: Heimweh! Und zwar nach vielen kleinen Dingen:
- ein Café, in dem man draußen sitzen kann und an einem sonnigen Nachmittag mit einem Buch und einem Stück Kuchen das Leben genießen
- ein Restaurant, in dem man in Ruhe essen kann, ohne dass alle drei Minuten ein Superkellner fragt, ob man noch was trinken oder essen möchte, damit man schnell geht und den Tisch für den nächsten Gast freimacht
- ein Wegbier. Und zwar eins, was nach Deutschem Reinheitsgebot gebraut ist
- Feiern, solange man will. Und bitte ohne Polizeikontrolle und Filmen meines Ausweises
- Meine “Kneipe an der Ecke”, die eine lange Theke hat und eine Dartscheibe; wo mich der Inhaber mit Namen kennt, wo man Fußball schauen kann und zur Not ein Wurscht-Brot bestellen kann
- Gesundes Essen zu normalen Preisen, Kuhmilch ohne Hormone, Mais mit natürlichen Genen, Joghurt mit Fett, und überhaupt Quark und Schmand, ein stinknormales belegtes Brötchen, eine Butterbrezel oder von mir aus auch ein Leberkäs´wecken (ja, ich höre die Schwaben jubeln ;-))
- Theater und Sportveranstaltungen zu normalen Preisen
- gute, und damit meine ich, ehrliche Gespräche
Und so ergab es sich vergangenen Mittwoch folgende Situation: Nach der Rede des griechischen Verteidigungsministers bei uns an der Schule, redete ich bei einem Glas guten Wein, Oliven und Käse mit anderen Europäern und stellte fest, dass es nicht nur mir so geht. Griechen, Ungarn, Tschechen, Spanier, Schweizer, Holländer, Norweger – ihnen allen fehlt hier etwas.Und ich kann es nicht anders bezeichnen als: Europäische Kultur. Und damit meine ich nicht nur die Gemeinsamkeit, dass wir alle auf der Straße trinken dürfen; Die Europäer begehen ihr Leben gänzlich anders als die Amerikaner. Und das war mir vorher nicht so bewusst.
Zumindest die Masse der amerikanischen Studenten hier preisen ihren Individualismus zugunsten tief gehender menschlicher Beziehungen. Um diese zu entwickeln, bräuchte man Zeit und die Muße sich mit einem anderen Menschen eingehender zu beschäftigen, eben mehr als “Hey, how are you?” oder “I like your shoes”. Während ich am Anfang des Semesters noch dachte, dass die Oberflächlichkeit der Kürze der Zeit geschuldet ist, die ich erst in der Uni war, muss ich jetzt meine Meinung etwas ändern: Das, was ich als Oberflächlichkeit bezeichne, ist für viele Amerikaner Alltag. Wenn ich ihnen beschreibe, dass ich nächtelang mit meinen besten Freunden einfach nur reden kann, dass ein Spaziergang im Herbstlaub mich glücklich macht, dann schauen mich die meisten fassungslos an. Über was sollte man die ganze Nacht reden, und ein Spaziergang ist nichts Besonderes (nichts, was man auf Facebook viele Likes erhält). Auch wenn es für mich befremdlich ist, diese Einstellung hat nicht nur Nachteile: Die jungen Studenten sind flexibel, offen für neue Menschen. Gestern Peace Chor in Afrika, heute Fletcher School, morgen die Welt. Und was zählt, ist das Netzwerk, nicht die Freundschaft.
Die wahrscheinlich beruhigendste Erkenntnis für mich ist: So soll mein Leben nicht sein! Und das ist etwas Wunderbares: Zu erkennen, was man einfach nicht will.
Stets habe ich mich gefragt, ob es gelingen kann, Europa eine Identität zu geben. Oft keine Gemeinsamkeiten gesehen, auf denen die Identität für ein Vereinigtes Europa basieren könnte. Anscheinend musste ich den Kontinent verlassen, um jetzt zu erkennen, wie viel Potenzial in Europa steckt und wie viel von Europa in mir steckt. Einmal über den Großen Teich kann man auch wunderbar über Schwächen und Stärken reden; Hier leugnet kein Grieche, dass die Krise selbstverschuldet ist. Natürlich grenzen wir europäischen Studenten uns ab von einer Amerikanischen Kultur, die wir in so vielen Hinsichten nicht verstehen und doch bewundern (noch immer spricht hier keiner von einer Wirtschaftskrise. “Einfach weiter Geld ausgeben, es wird schon wieder besser”, sagte neulich ein Taxifahrer). Von daher kann ich meine neue Europäische Identität nicht überbewerten.
Es scheint aber so, dass ich mein Motto “Wenn Du weißt, wo Du bist, kannst Du überall sein.” erst hier in Boston voll umfänglich verstehe. Der berühmte Blick von außen schadet wohl nie.
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